ABT. MODERNES LEBEN

Der folgende Artikel stammt aus "Die Woche" vom 23. Oktober 1998.

Comeback der Segelohren

Böse Scherze und treue Fans: Das legendäre
Satire-Magazin MAD wagt einen Neustart

VON JÖRG BÖCKEN
UND CHRISTOPH DALLACH

Das kleine Mädchen in einem Hamburger Comic-Laden hat keine Ahnung, wer der alte Mann ist, der zwischen Heften und Plakaten sitzt und aufgeregten Jungs mit einem roten Filzschreiber komische Figuren auf Bücher, Hefte und Poster malt. Die meisten dieser Jungs sind über 30 und wünschen sich das zahnlückige Konterfei von Alfred E. Neumann, dem Markenzeichen der Zeitschrift ,,MAD". Das Mädchen kennt weder das Magazin noch die Visage, aber der alte Mann drückt ihr mit breitem Grinsen ein Poster in die Hand: ,,Try this, little girl. lt's very funny."
Sergio Aragones ist 72 Jahre alt und eine Legende unter den Comic-Zeichnern Amerikas. In Deutschland wirbt er zur Zeit für ,,MAD" (Untertitel: ,,Das intelligenteste Magazin der Welt"), denn der Stuttgarter Dino-Verlag versucht in diesem Monat einen Relaunch des legendären Satire- und Nonsense Magazins aus den USA. verwegenes Unternehmen: 1995 stellte der damalige Verleger Klaus Recht nach 28 Jahren die deutsche Lizenzausgabe wegen Erfolglosigkeit ein.
,,,MAD' hatte den Zeitgeist verloren", erklärte damals Herbert Feuerstein, 20 Jahre lang Chefredakteur des Magazins. Anfang der 70er Jahre hatte er das Blatt als Chefredakteur übernommen und klebte die Seiten in seinem Wohnzimmer aus den amerikanischen Vorlagen zusammen. Er steigerte die Auflage von 15 000 auf bis zu 330 000 Exemplare und häufte dank Umsatzbeteiligung ein kleines Vermögen an. ,,Feuerstein gehörte damals in die Verdienstklasse von Henri Nannen", verriet später Herausgeber Recht.
Aus den US-Cartoons wählte Feuerstein mit Vorliebe aus, was keiner Worte bedurfte: die bösartigen Hinterhalte von ,,Spion & Spion", den liebenswerten Irrsinn der Star-Zeichner Don Martin und Sergio Aragones. Mit Lautschöpfungen wie ,,lechz, hechel, würg" erfand er einen Jugend-Slang, der von einer ganzen Generation übernommen wurde, und verwandelte den amerikanischen Mythos ,,MAD" in einen deutschen.
Ausgedacht hatte sich den ganzen Wahn- Sinn der amerikanische Comic-Autor Harvey Kurtzman für den Verleger Bill Gaines: ,,Tales Calculated to Drive You Mad" nannten sie das Heft, das sich ab 1952 über alles und jeden lustig machte - andere Comics, Fernsehen, Kinofilme, Stars, Politiker, sich selbst, seine Leser. Um unabhängig zu bleiben, verzichtete Gaines in seinem Heft auf Werbung, eine Regel, die bis heute gilt. ,,Bill Gaines war der Alleinherrscher - und Vaterfigur für uns alle", sagt Zeichner Sergio Aragones, der 1963 zur ,,MAD"-Familie stieß und seitdem in jeder Ausgabe vertreten ist: ,,Wenn wir wegen Rufschädigung verklagt wurden, bekamen wir die besten Anwälte: wenn es sein musste, bis zum Obersten Gerichtshof." Was auch nötig war, denn die ätzenden Scherze machten weder vor dem Kennedy-Clan noch vor dem Ku-Klux-Klan halt. „,MAD'-Humor", erklärt Aragones, „besteht zu 50 Prozent aus purem Blödsinn und zu 50 Prozent aus Satire mit Botschaft." Die Mischung kam so gut an, dass in den 70er Jahren bis zu 2,5 Millionen Exemplare pro Ausgabe verkauft wurden. „Gibt es einen Amerikaner unter 50, der in seiner Jugend nicht den befreienden und respektlosen Rausch von ,MAD' erlebt hat?", fragte das Magazin „Time" 1992. Und feierte Gaines als Urvater des humoristischen Entertainments der letzten zwei Jahrzehnte: „Saturday Night Life", die „Simpsons" oder die „David Lettermann Show" wären ohne „MAD" undenkbar.
„Wir hatten eine Menge Spaß damals", erzählt Aragones. „Aus unseren Wasserspendern floss Weißwein, in exotischen Clubs feierten wir durchgedrehte Partys und einmal im Jahr machte die usual gang of idiots, wie die ,MAD'-Crew sich nannte, auf Bills Kosten irgendeine irre Reise in alle Ecken der Welt."
Der Abstieg begann mit Computer-Spielen. „Der Pacman fraß als Erster gewaltig an unserer Auflage", erinnert sich Aragones. Nachdem Tod von Bill Gaines wurden junge Zeichner an Bord geholt, sonst blieb alles beim Alten. „Wir haben drei Sekunden lang diskutiert, Alfred E. Neumann zu begraben", sagt Sergio Aragones, „das haben wir natürlich gelassen." Auch andere „MAD"-Markenzeichen blieben unangetastet- das Heft erschien weiterhin anzeigenfrei und in Schwarzweiß. Heute verkauft „MAD" in den USA gerade mal 500 000 Stück.
Zum Neustart der deutschen Ausgabe wagte der Dino-Verlag zwei Tabubrüche: Werbung und Vierfarb-Druck. Ex-Chefredakteur Feuerstein mag sich zum neuen Heft nicht äußern: „Das ist, als würden die Beatles über Oasis urteilen." Urgestein Aragones ist dagegen zufrieden: „Meine Zeichnungen haben nie besser ausgesehen." Neben der Colorierung setzt der Dino-Verlag auf Synergien mit dem Fernsehen. Die amerikanische Comedy-Show „MAD TV", ein Mix aus klassischen „MAD"-Cartoons und bemühten Sketchen, ist diesen Herbst auf RTL gestartet und spaltet die Fan-Gemeinde. Die Zeitschrift wiederum persifliert in der Rubrik „MAD TV" RTL-Flachsinn wie „Veroras Welt" oder „TV Kaiser". Trotz Sender-Logo auf dem Cover sieht Dino-Redakteur Jo Löffler keine Interessenkollision: ,MAD' kann auch ohne die TV-Sendung weiterlaufen und in Zukunft werden wir auch Formate anderer Sender verarschen."
Ungefähr 100 000 Käufer erwartet Löffler für die erste Ausgabe, die mit einer Auflage von 160 000 Stück an den Start gegangen ist. Hauptzielgruppe sind die Zehn- bis Fünfzehnjährigen, Anfänger im „MAD"-Kosmos. Die müssen erst noch überzeugt werden. Das kleine Mädchen jedenfalls rennt aus dem Laden, ohne ein Heft gekauft zu haben. „Komm wieder, wenn du 5 Mark hast", ruft ihr der Redakteur hinterher. Gelacht hat er dabei nicht.